Autismus: So bekannt und unbekannt zugleich? Wie es zu Vorurteilen gegenüber Betroffenen kommt?

Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die – ähnlich wie ADHS – im modernen digitalen Zeitalter zunehmend an Aufmerksamkeit und Popularität gewinnt. Wieso ist es jedoch so, dass wir viele unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie Betroffene sind oder sich verhalten? Dennoch haben wenige von uns Kontakt zu Betroffenen in unserem näheren Umfeld. Natürlich trägt die umfangreiche Berichterstattung in den Medien zur Verbreitung von Stereotypen über Betroffene bei. Um Verallgemeinerungen und Fehlschlüssen vorzubeugen und für mehr Verständnis gegenüber Betroffenen zu sorgen, soll sich dieser Artikel damit befassen, was Autismus ist, wie es Betroffenen geht und wie wir, als direkt oder indirekt Betroffene, besser mit der Störung umgehen können.

Was ist Autismus?
Unter Autismus versteht man nach dem modernen Verständnis des ICD-11 die Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Im Gegensatz zum alten Manual ICD-10, in dem zwischen verschiedenen Autismus-Kategorien – Frühkindlicher Autismus, Atypischer Autismus und Asperger-Syndrom – anhand unterschiedlicher Symptomatiken unterschieden wurde, fasst die moderne Perspektive die Störung als Spektrum auf. Hierbei werden die unterschiedlichen und individuellen Kennzeichen durch zusätzliche Informationen spezifiziert. Als Kernbestandteile der Diagnose gelten nach ICD-11:
1.      Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation und Interaktion. Das bedeutet 
a.      Schwierigkeiten beim Verständnis nonverbaler Signale: Mimik, Gestik und Blickkontakt sind für viele von uns selbstverständlich. Menschen mit Autismus können jedoch Schwierigkeiten haben, diese Signale zu interpretieren. Ein Zwinkern oder Stirnrunzeln könnte für sie keine besondere Bedeutung haben.
b.      Herausforderungen beim Aufbau von Beziehungen: Small Talk oder lockere Gespräche können anstrengend sein. Es fällt schwer, Freundschaften zu schließen oder zu wissen, was in sozialen Situationen angemessen ist.
c.      Eingeschränkte emotionale Reaktionen: Manchmal wirken Betroffene emotional distanziert oder zeigen ungewöhnliche Reaktionen auf Ereignisse. Das liegt nicht daran, dass sie keine Gefühle haben, sondern daran, dass sie sie anders ausdrücken oder wahrnehmen.

Diese Beeinträchtigungen sind kein Zeichen von Gleichgültigkeit oder mangelndem Interesse, sondern resultieren aus einer anderen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweise sozialer Informationen (Baron-Cohen, 2008).

2.      Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten
a.      Repetitive Bewegungen oder Sprache: Dazu gehören Handbewegungen wie Flattern, Wippen oder das ständige Wiederholen von Wörtern und Sätzen.
b.      Strikte Routinen und Rituale: Veränderungen im Tagesablauf können Stress auslösen. Ein unerwarteter Besuch oder eine Planänderung kann überwältigend sein.
c.      Intensive Interessen: Betroffene können ein tiefes Wissen in bestimmten Bereichen haben, wie z. B. Zugfahrpläne, Dinosaurier oder Mathematik. Sie beschäftigen sich oft stundenlang damit und teilen ihr Wissen gerne, manchmal ohne zu merken, ob das Gegenüber interessiert ist.
d.      Sensorische Empfindlichkeiten: Geräusche, Lichter oder bestimmte Stoffe können als unangenehm empfunden werden. Ein summendes Licht oder kratzige Kleidung können erheblichen Unkomfort verursachen.
Diese Verhaltensweisen sind nicht nur Eigenheiten, sondern helfen den Betroffenen, die Welt besser zu verstehen und mit ihr umzugehen. Sie bieten ein Gefühl von Kontrolle und Vorhersagbarkeit in einer oft verwirrenden Umgebung (Bogdashina, 2016).
Nicht nur bezüglich des Begriffs, sondern auch im Bezug auf die Betroffenen Personen gibt es fühlen Mythen und Unwahrheiten die innerhalb der Gesellschaft weit verbreitet sind. Um diesen auf die Schliche zu kommen werden im Folgenden die Bekanntesten Mythen aufgeklärt.
1.      Mythos: Autismus wird durch Impfungen verursacht.
Fakt: Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben keinen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus gefunden. Die ursprüngliche Studie, die einen solchen Zusammenhang behauptete, wurde aufgrund schwerwiegender methodischer Fehler und ethischer Verstöße zurückgezogen (DeStefano et al., 2013; Taylor et al., 2014).
2.      Mythos: Alle Menschen mit Autismus sind geistig behindert.
Fakt: Autismus ist eine Spektrumstörung, was bedeutet, dass die kognitiven Fähigkeiten von Betroffenen stark variieren. Viele Menschen mit Autismus haben eine durchschnittliche oder überdurchschnittliche Intelligenz (Charman et al., 2011).
3.      Mythos: Menschen mit Autismus zeigen keine Emotionen oder Empathie.
Fakt: Menschen mit Autismus empfinden Emotionen tief und können Empathie zeigen, auch wenn sie Schwierigkeiten haben, diese zu äußern oder die Emotionen anderer zu interpretieren (Bird & Cook, 2013).
4.      Mythos: Alle Menschen mit Autismus haben außergewöhnliche Fähigkeiten (Savant-Fähigkeiten).
Fakt: Während einige Menschen mit Autismus besondere Fähigkeiten haben, ist dies selten. Die Mehrheit zeigt keine außergewöhnlichen Talente, sondern hat wie jeder andere individuelle Stärken und Schwächen (Howlin et al., 2009).
5.      Mythos: Autismus kann geheilt werden.
Fakt: Es gibt keine Heilung für Autismus. Frühzeitige Interventionen und Therapien können jedoch helfen, Fähigkeiten zu fördern und das Wohlbefinden zu steigern (Rogers & Vismara, 2008).
6.      Mythos: Autismus betrifft nur Jungen.
Fakt: Autismus tritt bei beiden Geschlechtern auf. Bei Mädchen wird Autismus jedoch oft später oder weniger häufig diagnostiziert, da Symptome anders ausfallen können und Mädchen oft bessere kompensatorische Strategien entwickeln (Lai et al., 2015).

Stärken und Schwächen von Menschen mit Autismus im Alltag
Menschen mit Autismus sind genauso vielfältig wie alle anderen. Sie bringen einzigartige Stärken mit, stehen aber auch vor besonderen Herausforderungen. Ein tieferes Verständnis dieser Stärken und Schwächen kann helfen, Vorurteile abzubauen und unterstützende Umgebungen zu schaffen.
Stärken bei Menschen mit Asperger-Syndrom (hochfunktionalem Autismus):
  1. Spezialwissen und Detailorientierung
Viele Menschen mit Autismus entwickeln ein tiefes Interesse an bestimmten Themen und erwerben ein umfangreiches Wissen in diesen Bereichen (Attwood, 2007). Ihre Fähigkeit, sich intensiv zu fokussieren, ermöglicht es ihnen, Details zu bemerken, die anderen entgehen.
Beispiel: Ein Betroffener könnte ein Experte für Astronomie werden, indem er sich jedes verfügbare Buch zu diesem Thema aneignet und komplexe Konzepte versteht.
  1. Ehrlichkeit und Direktheit
Menschen mit Autismus neigen dazu, direkt und ehrlich zu kommunizieren, ohne versteckte Absichten oder soziale Manipulationen (Baron-Cohen, 2008). Diese Aufrichtigkeit wird in persönlichen und beruflichen Beziehungen oft geschätzt.
Beispiel: Sie geben ehrliches Feedback und halten sich an Abmachungen, was sie zu zuverlässigen Teammitgliedern macht.
  1. Logisches Denken und Problemlösungsfähigkeiten
Viele zeigen starke analytische Fähigkeiten und ein Talent für logisches Denken (Happé & Frith, 2009). Dies kann in Bereichen wie Mathematik, Informatik oder Ingenieurwesen von Vorteil sein.
Schwächen:
  1. Empathieverständnis und soziale Kommunikation
Schwierigkeiten beim Lesen von nonverbalen Signalen und beim Verstehen von sozialem Kontext können zu Missverständnissen führen (Baron-Cohen et al., 2015). Das sogenannte "Theorie des Geistes"-Defizit bedeutet, dass es ihnen schwerfällt, die Perspektiven anderer zu erkennen.
Beispiel: Sie könnten sarkastische Bemerkungen wörtlich nehmen oder den emotionalen Zustand eines Freundes nicht erkennen.
  1. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit
Veränderungen in Routinen oder unerwartete Ereignisse können Stress oder Angst auslösen (Klin et al., 2000). Die Präferenz für Vorhersehbarkeit kann es schwierig machen, sich an neue Situationen anzupassen.
Beispiel: Ein spontaner Planwechsel könnte zu Überforderung führen.
  1. Sensorische Empfindlichkeiten
Über- oder Unterempfindlichkeiten gegenüber sensorischen Reizen wie Geräuschen, Licht oder Berührungen können den Alltag beeinträchtigen (Bogdashina, 2016).
Beispiel: Laute Umgebungen wie Einkaufszentren könnten als überwältigend empfunden werden.
Angesichts dieser einzigartigen Stärken und Herausforderungen ist es entscheidend, Strategien zu entwickeln, die Menschen mit Autismus im Alltag unterstützen. Mit dem richtigen Ansatz können Betroffene ihre Fähigkeiten optimal nutzen und Hindernisse überwinden. Im nächsten Abschnitt finden Sie praktische Tipps für Betroffene und Angehörige, um den Alltag erfolgreich zu gestalten.
 
Praktische Tipps für den Alltag
Für Betroffene:
  1. Eigene Stärken nutzen
Identifizieren Sie Ihre Interessen und Talente und suchen Sie nach Möglichkeiten, diese in Bildung, Beruf oder Freizeit einzusetzen. Das Verfolgen von Leidenschaften kann Motivation und Selbstwertgefühl steigern.
Beispiel: Teilnahme an Clubs oder Gruppen, die sich mit Ihrem Spezialthema befassen.
  1. Kommunikationstechniken verbessern
Arbeiten Sie mit Therapeuten oder in sozialen Kompetenztrainings, um Kommunikationsfähigkeiten zu entwickeln (Gantman et al., 2012). Rollenspiele und Gruppentherapien können helfen, soziale Situationen zu üben.
Beispiel: Lernen, nonverbale Hinweise zu erkennen oder Small Talk zu führen.
  1. Strukturierte Tagesabläufe einführen
Erstellen Sie Zeitpläne und Routinen, um den Tag vorhersehbar zu gestalten. Planungstools oder Apps können dabei unterstützen.
Beispiel: Nutzung eines Kalenders mit detaillierten Tagesabläufen.
 
Für Angehörige:
  1. Individuelle Unterstützung bieten
Lernen Sie die spezifischen Bedürfnisse und Vorlieben Ihres Angehörigen kennen und passen Sie Ihre Unterstützung entsprechend an (Gray, 2002).
Beispiel: Gemeinsame Erstellung von Routinen oder Hilfestellung bei sozialen Aktivitäten.
  1. Netzwerke aufbauen
Vernetzen Sie sich mit anderen Familien und Fachkräften, um Erfahrungen auszutauschen und Unterstützung zu erhalten.
Beispiel: Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder Online-Foren.
  1. Respektvolle Kommunikation pflegen
Sprechen Sie klar und direkt, vermeiden Sie doppeldeutige Aussagen und bestätigen Sie das Verständnis.
Beispiel: Anweisungen in klare, einfache Schritte unterteilen.
 
Autismus ist eine komplexe Entwicklungsstörung, die trotz zunehmender Aufmerksamkeit noch immer von Missverständnissen und Vorurteilen begleitet wird. Ein tieferes Verständnis der Symptome, Stärken und Herausforderungen kann dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und eine inklusive Gesellschaft zu fördern. Indem wir uns informieren und offen auf Betroffene zugehen, können wir dazu beitragen, dass Menschen mit Autismus ihr volles Potenzial entfalten und ein erfülltes Leben führen können.


Literaturverzeichnis 
Asperger, H. (1944). Die autistischen Psychopathen im Kindesalter. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 117(1), 76–136.
Baron-Cohen, S., Lombardo, M. V., & Tager-Flusberg, H. (Hrsg.). (2013). Understanding other minds: Perspectives from developmental social neuroscience (3. Aufl.). Oxford University Press.
Bird, G., & Cook, R. (2013). Mixed emotions: The contribution of alexithymia to the emotional symptoms of autism. Translational Psychiatry, 3(7), e285. https://doi.org/10.1038/tp.2013.61
Bleuler, E. (1911). Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Deuticke.
Bogdashina, O. (2016). Sensory perceptual issues in autism and Asperger syndrome: Different sensory experiences, different perceptual worlds (2. Aufl.). Jessica Kingsley Publishers.
Charman, T., Pickles, A., Simonoff, E., Chandler, S., Loucas, T., & Baird, G. (2011). IQ in children with autism spectrum disorders: Data from the Special Needs and Autism Project (SNAP). Psychological Medicine, 41(3), 619–627. https://doi.org/10.1017/S0033291710000991
Gantman, A., Kapp, S. K., Orenski, K., & Laugeson, E. A. (2012). Social skills training for young adults with high-functioning autism spectrum disorders: A randomized controlled pilot study. Journal of Autism and Developmental Disorders, 42(6), 1094–1103. https://doi.org/10.1007/s10803-011-1350-6
Gray, D. E. (2002). Ten years on: A longitudinal study of families of children with autism. Journal of Intellectual and Developmental Disability, 27(3), 215–222. https://doi.org/10.1080/1366825021000008639
Happé, F., & Frith, U. (2009). The beautiful otherness of the autistic mind. Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 364(1522), 1345–1350. https://doi.org/10.1098/rstb.2009.0009
Klin, A., Saulnier, C. A., Sparrow, S. S., Cicchetti, D. V., Volkmar, F. R., & Lord, C. (2007). Social and communication abilities and disabilities in higher functioning individuals with autism spectrum disorders: The Vineland and the ADOS. Journal of Autism and Developmental Disorders, 37(4), 748–759. https://doi.org/10.1007/s10803-006-0229-4
Lai, M.-C., Lombardo, M. V., & Baron-Cohen, S. (2014). Autism. The Lancet, 383(9920), 896–910. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(13)61539-1
Rogers, S. J., & Vismara, L. A. (2008). Evidence-based comprehensive treatments for early autism. Journal of Clinical Child & Adolescent Psychology, 37(1), 8–38. https://doi.org/10.1080/15374410701817808
Taylor, L. E., Swerdfeger, A. L., & Eslick, G. D. (2014). Vaccines are not associated with autism: An evidence-based meta-analysis of case-control and cohort studies. Vaccine, 32(29), 3623–3629. https://doi.org/10.1016/j.vaccine.2014.04.085