Neurodivergenz: Ein neues Wort für alte Ideale

Der Begriff „Neurodivergenz“ und seine aktuelle Popularität

In den letzten Jahren hat der Begriff „Neurodivergenz“ zunehmend an Bedeutung gewonnen, insbesondere im Kontext der sozialen Bewegungen, die sich für mehr Akzeptanz und Inklusion einsetzen. Zudem wird der Begriff viel in Sozialen Medien und unter KlinikerInnen genutzt. Neurodivergenz beschreibt die Vielfalt neuronaler Entwicklungsweisen und steht im Gegensatz zur Vorstellung eines „neurotypischen“ Gehirns, also eines Gehirns, das auf eine als „normal“ definierte Art und Weise funktioniert. Menschen, deren kognitive Funktion nicht diesen Normen entspricht, gelten als neurodivergent, wie es zum Beispiel bei Betroffenen der Entwicklungsstörung ADHS oder Autismus der Fall ist. Grundlegend spricht sich die dahinterstehende Bewegung nämlich für die Akzeptanz und Wertschätzung der Andersartigkeit von Menschen aus. Um es mit den Worten des rheinischen Grundgesetzes zu sagen “Jeder Jeck ist anders. Nimm deine Mitmenschen Wie sie sind“. 

Vergleichbar ist dieser Aufstieg und die breite Anerkennung der Neurodiversitätsbewegung mit anderen sozialen Bewegungen, wie der HippieBewegung der 1960er Jahre, die ebenfalls gegen den Mainstream aufbegehrte und sich für eine neue, alternative Sicht auf Gesellschaft, Umwelt und menschliche Beziehungen einsetzte. Genauso wie die Hippies gegen starre gesellschaftliche Normen kämpften, setzt sich die Neurodiversitätsbewegung dafür ein, neurologische Unterschiede nicht als „Fehler“ oder „Störungen“ zu sehen, sondern als Teil der menschlichen Vielfalt zu akzeptieren. Anstatt die Unterschiede zum Durchschnitt negativ als “Störungen” oder “Fehler” zu beschreiben, ist der Ansatz der Bewegung die Stärken und unterschiedlichen Fähigkeiten der untypischen neuronalen Ausprägungen hervorzuheben. Diese Parallele zeigt, wie soziale Bewegungen gegen bestehende Normen arbeiten, um neue Wege des Denkens und Verstehens zu eröffnen.

Was fällt unter den Begriff. Neurodivergenz?
Unter den Begriff Neurodivergenz fallen viele unterschiedliche neurologische Entwicklungen und Bedingungen, darunter:
1. Autismus-Spektrum-Störung (ASS): Eine neurologische Entwicklungsweise, die
sich durch Unterschiede in der sozialen Kommunikation und im Verhalten
auszeichnet. Menschen im Autismus-Spektrum können besonders stark
ausgeprägte Fähigkeiten in bestimmten Bereichen haben, aber auch
Schwierigkeiten im sozialen Bereich erleben (American Psychiatric Association,
2013).
2. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung): Menschen mit
ADHS haben Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, sind oft
impulsiv und neigen zu hyperaktivem Verhalten. ADHS wird oft als eine Störung
wahrgenommen, kann aber auch mit Kreativität, schnellem Denken und
innovativen Lösungen in Verbindung gebracht werden (Barkley, 2015).
3. Dyslexie (Lese- und Rechtschreibstörung): Menschen mit Dyslexie haben
Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben, obwohl ihre kognitiven
Fähigkeiten ansonsten gut ausgeprägt sind. Viele Menschen mit Dyslexie haben
besonders ausgeprägte Fähigkeiten im visuellen und räumlichen Denken
(Shaywitz, 2003).
4. Dyspraxie (Koordinationsstörung): Diese betrifft die Fähigkeit, Bewegungen zu
planen und zu koordinieren. Menschen mit Dyspraxie haben oft Schwierigkeiten
mit feinmotorischen und grobmotorischen Aufgaben, zeigen aber oft starke
Fähigkeiten in anderen Bereichen, wie Problemlösung oder Kreativität (Kirby &
Sugden, 2007).
5. Tourette-Syndrom: Gekennzeichnet durch wiederkehrende, unkontrollierte
Bewegungen oder Geräusche, sogenannte Tics. Menschen mit Tourette können
häufig hochkreativ sein und sind in der Lage, in stressigen Situationen eine
außergewöhnliche Resilienz zu zeigen (Leckman, 2002).
Diese neurodivergenten Bedingungen werden zunehmend als verschiedene Formen menschlicher Vielfalt angesehen, die nicht „geheilt“ werden müssen, sondern Verständnis und Anpassung erfordern, um die einzigartigen Stärken neurodivergenter Menschen zu fördern.

Die Entstehung des Begriffs „Neurodivergenz“
Der Begriff „Neurodivergenz“ wurde erstmals in den 1990er Jahren von der Soziologin Judy Singer geprägt, die selbst Autistin ist. Singer wollte mit dem Begriff ein
Konzept etablieren, das neurologische Unterschiede nicht als pathologisch, also als “Krank” oder “Störung” bezeichnet, sondern als Teil der menschlichen Vielfalt versteht (Singer, 1999). Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Neurodiversitätsbewegung, die stark von Autisten und anderen neurodivergenten Menschen unterstützt wurde. Die Bewegung hat das Ziel, neurologische Unterschiede als natürliche und wertvolle Variationen menschlicher Funktionsweise zu betrachten, ähnlich wie es die Gesellschaft mittlerweile mit Unterschieden in Ethnizität, Geschlecht oder Sexualität tut (Robertson, 2010). Das Bedeutet das Sie dafür eintritt das Neurologische Vielfalt als nicht als zu heilende oder zu behandelnde Erkrankungen angesehen werden.
Diese Idee hat in den letzten Jahren an Fahrt gewonnen und wurde in den Mainstream Diskurs integriert, oft durch prominente Fürsprecherinnen und Aktivistinnen wie Greta Thunberg, die öffentlich über ihre Erfahrungen mit Autismus gesprochen hat. Thunberg bezeichnete ihre neurodivergente Denkweise sogar als „Superkraft“, da sie ihr geholfen habe, sich auf ihre Klimaaktivismus-Arbeit zu fokussieren (Thunberg, 2019). Ähnliche Aussagen finden sich in der Art und Weise, wie neurodivergente Menschen ihre einzigartigen Perspektiven und Fähigkeiten als wertvoll und nützlich für die Gesellschaft darstellen.

Die politische Bewegung hinter der Neurodiversität
Die Neurodiversitätsbewegung hat ihre Wurzeln in der Behindertenrechtsbewegung und kämpft gegen die Pathologisierung und Medizinisierung von neurologischen
Unterschieden. Diese Bewegung setzt sich für die Anerkennung der Menschenrechte von neurodivergenten Menschen ein und fordert einen Wandel im Verständnis von „normalem“ und „abweichendem“ Verhalten. Sie wendet sich gegen den Versuch, neurodivergente Menschen „anzupassen“ oder „zu heilen“, und plädiert stattdessen dafür, gesellschaftliche Strukturen so zu gestalten, dass sie für alle zugänglich sind (Walker, 2020).
Dies spiegelt die Forderungen früherer sozialer Bewegungen wider, etwa die der AntiAtomkraft-Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren, die sich ebenfalls gegen eine dominante, als schädlich wahrgenommene Praxis auflehnte und alternative Ansätze forderte. Genauso wie die Anti-Atomkraft-Bewegung alternative Energiequellen propagierte, setzt sich die Neurodiversitätsbewegung für alternative Sichtweisen auf menschliche neurologische Entwicklung ein.
Solltest du nach diesen ersten Informationen zum Thema Neurodivergenz noch tiefergehendes Wissen suchen, haben wir einige zusätzliche Ressourcen für dich. Wenn du dich noch nicht ausreichend aufgeklärt fühlst, findest du im Folgenden acht praktische Tipps, wie du dich weiter mit dem Thema auseinandersetzen kannst. 

1. Informiere dich über verschiedene Formen der Neurodivergenz
Beginne damit, die häufigsten Arten von Neurodivergenz zu verstehen, wie Autismus, ADHS, Dyslexie und Tourette-Syndrom. Verlässliche Quellen wie Bücher, Dokumentationen und wissenschaftliche Artikel helfen, fundierte Informationen zu sammeln und Missverständnisse zu vermeiden.
2. Verstehe, dass Neurodivergenz ein Spektrum ist
Neurodivergenz ist keine „Schublade“, in die Menschen klar einsortiert werden können. Jeder Mensch auf dem neurodivergenten Spektrum erlebt seine neurologische Veranlagung unterschiedlich. Akzeptiere diese Vielfalt und halte dich von Stereotypen fern.
3. Verwende inklusive und respektvolle Sprache
Achte darauf, wie du über neurodivergente Menschen sprichst. Vermeide Begriffe wie „Störung“ oder „Defizit“. Verwende stattdessen respektvolle Begriffe wie „neurodivergent“, um die Vielfalt des Gehirns zu beschreiben.
4. Nimm an neurodivergenten Online-Communitys teil
In Foren, Social Media Gruppen oder auf speziellen Websites kannst du Erfahrungen mit neurodivergenten Menschen austauschen. Das ermöglicht dir einen Einblick in ihre Perspektiven und Herausforderungen.
5. Lerne die Stärken und Herausforderungen kennen
Neurodivergente Menschen haben oft besondere Stärken, wie z.B. kreative Problemlösung bei ADHS oder detailorientiertes Denken bei Autismus. Lerne, diese Stärken zu schätzen, anstatt nur auf die Herausforderungen zu fokussieren.
6. Sprich mit neurodivergenten Menschen
Persönliche Gespräche mit neurodivergenten Menschen oder deren Familien können helfen, ein tieferes Verständnis zu entwickeln. Ihre individuellen Erfahrungen sind oft hilfreicher als allgemeine Informationen aus Büchern oder Medien.

Fazit
Die Neurodiversitätsbewegung hat, ähnlich wie frühere soziale Bewegungen, die Art und Weise verändert, wie wir über menschliche Unterschiede denken. Sie plädiert dafür, neurologische Unterschiede als Teil der natürlichen Vielfalt zu akzeptieren und sie nicht zu pathologisieren. Neurodivergente Menschen, wie Menschen mit Autismus, ADHS, Dyslexie oder Tourette-Syndrom, haben spezifische Herausforderungen, aber auch einzigartige Stärken, die unsere Gesellschaft bereichern. Durch die Akzeptanz und das Verständnis für diese Unterschiede kann eine inklusivere und gerechtere Gesellschaft entstehen.

Literaturverzeichnis 

- American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5. Aufl.). American Psychiatric Publishing.
- Barkley, R. A. (2015). Attention-deficit hyperactivity disorder: A handbook for diagnosis and treatment (4. Aufl.). Guilford Press.
- Kirby, A., & Sugden, D. (2007). Children with developmental coordination disorder (DCD): A framework for practice. Physical Therapy, 87(10), 1379-1392.
- Leckman, J. F. (2002). Tourette's syndrome. The Lancet, 360(9345), 1577-1586. Robertson, S. M. (2010). Neurodiversity, quality of life, and autistic adults: Shifting research and professional focuses onto real-life challenges. Disability Studies Quarterly, 30(1).
- Shaywitz, S. (2003). Overcoming dyslexia: A new and complete science-based program for reading problems at any level. Knopf.
- Singer, J. (1999). Why can't you be normal for once in your life? From a "problem with no name" to the emergence of a new category of di0erence. In M. Corker & S. French (Eds.), Disability Discourse (S. 59-67). Open University Press.
- Thunberg, G. (2019). I don’t want you to listen to me. I want you to listen to the scientists. TED Talk.