Limerenz

Verliebtheit ist ein Zustand, der in einer Veränderung des Hormonspiegels resultiert und das menschliche Erleben auf besondere Weise verändert, was das Verlangen nach Nähe zu einer bestimmten Person zur Folge hat und Ängste bei der Vorstellung einer Trennung verursacht. Doch was passiert, wenn Verliebtheit in Besessenheit umschlägt? Wenn die Gedanken an und die Beschäftigung mit der begehrten Person unvorhergesehene Ausmaße annehmen? Wenn das Ganze nicht mehr gesund erscheint? Ist dies der Fall, spricht man in der Psychologie von "Limerenz". 

Die Netflix-Serie "YOU – Du wirst mich lieben" wird von Zuschauern kontrovers diskutiert. Der Protagonist der Serie ist Joe, ein in sich gekehrter Buchhändler mit einer schwierigen Vergangenheit. Im Verlauf der drei Staffeln entwickelt er Obsessionen für verschiedene Frauen und verfolgt diese. Dieses so genannte Stalking beschreibt ein Verhalten - während Limerenz als emotionaler Zustand zu verstehen ist. In diesem Sinne ist Stalking von Limerenz zu unterscheiden, jedoch lässt sich vermuten, dass Joe sich im Zustand obsessiver Verliebtheit befand, den ich nun näher erklären möchte. 

Nur wer die Sehnsucht kennt, weiss was ich leide! 

- JOHANN WOLFGANG VON GOETHE 

Limerenz ist ein Begriff, der von der Psychologin Dorothy Tennov geprägt wurde und eine besondere Art der Verliebtheit beschreibt. In den 1970er Jahren führte Tennov Interviews mit 300 verliebten Versuchspersonen durch und stieß dabei auf ein Phänomen: Die Personen zeigten ein unkontrollierbares und überwältigendes Verlangen nach Aufmerksamkeit und positiver Wertschätzung von einer anderen Person, wobei unklar war, ob diese Gefühle erwidert wurden. Das Objekt der Begierde wurde in diesem Kontext wird als "limerentes Objekt" bezeichnet. 

Limerenz zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: 

  1. Intensive, permanente Gedanken an das limerente Objekt: Nach Tennov können diese Gedanken zwischen 85 und 100 Prozent der wachen Stunden einnehmen. Das limerente Objekt wird idealisiert, während gleichzeitig Sorgen darüber entstehen, wie man selbst gegenüber der limerenten Person auftritt. 
  2. Ausführung ritualisierter Verhaltensweisen: Betroffene betrachten beispielsweise lange und intensiv Fotos des Objekts der Begierde oder lesen wiederholt dessen Nachrichten. Diese Gedanken und Verhaltensweisen können dazu führen, dass andere Lebensbereiche in den Hintergrund geraten und vernachlässigt werden. 
  3. Starke Abhängigkeit der eigenen Stimmung vom wahrgenommenen Verhalten des limerenten Objekts: Die emotionale Verfassung der Betroffenen hängt nahezu vollständig von den Signalen und Reaktionen des limerenten Objekts ab. Gibt es Anzeichen dafür, dass Gefühle erwidert werden, löst das große Euphorie aus. Im Gegensatz dazu führen Anzeichen, die gegen eine Erwiderung der Gefühle sprechen, zu Verzweiflung. 

[1]: Tennov, D. (1979). Love and limerence: The experience of being in love. Stein and Day. 

„I think love should come out of nowhere, sweep you up completely.” 

- JOE GOLDBERG ("YOU", NETFLIX) 

Was löst Limerenz aus? 

Es ist unklar, warum Limerenz bei einigen Personen entsteht und anderen dieser Zustand völlig unbekannt bleibt. Er ist vermutlich das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung zwischen den Bindungserfahrungen der betroffenen Person und denen des limerenten Objekts, der Lebensumstände der betroffenen Person, ihrer individuellen Persönlichkeit und ihren Vorstellungen von Liebe und dem Verliebtsein. 

Es ist jedoch einfacher, die Gründe für die Aufrechterhaltung von Limerenz aufzudecken. Eine wesentliche Rolle spielt die Ungewissheit darüber, ob die eigenen Gefühle von der begehrten Person erwidert werden. Je größer das Ausmaß dieser Unsicherheit ist, desto intensiver beschäftigt sich die betroffene Person mit dem limerenten Objekt und desto extremer kreisen ihre Gedanken um dieses. 
 
Ist Limerenz eine Krankheit? 

Vom Grundsatz her wird Limerenz nicht als Krankheit oder psychische Störung klassifiziert. Vielmehr handelt es sich um einen emotionalen Zustand bzw. eine Erfahrung. Dennoch sind Parallelen sowohl zur Sucht- als auch zur Zwangserkrankung erkennbar. 

Ähnlich wie bei einer Zwangsstörung kommt es bei von Limerenz betroffenen Menschen zu unkontrollierbaren, intrusiven Gedanken und zwanghaften Ritualen im Zusammenhang mit dem limerenten Objekt. Dies können beispielsweise wiederholtes Betrachten von Fotos oder obsessives Lesen von Nachrichten sein. Wenn diese Symptome jedoch erhebliches Leid oder Beeinträchtigungen im täglichen Leben verursachen, könnte eine Diagnose einer Zwangsstörung in Betracht gezogen werden. 

Abgesehen davon können einige Merkmale einer Suchterkrankung vorliegen, wenn das starke Verlangen nach dem limerenten Objekt von weiteren Symptomen begleitet wird. Dazu gehören die Vernachlässigung anderer Interessen oder Freizeitaktivitäten zugunsten des limerenten Objekts sowie die Fortsetzung dieses Verhaltens trotz des Wissens über dessen Dysfunktionalität für das eigene Wohlbefinden. 

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Was kann gegen Limerenz unternommen werden?  

Da Limerenz nicht als psychische Erkrankung klassifiziert wird, gibt es keine eindeutigen diagnostischen Kriterien zur Identifizierung dieses Zustands und auch keine standardisierten Behandlungsansätze. Dennoch leiden die Betroffenen oft stark, da sie teilweise über Jahre hinweg in einem Zustand der Limerenz verharren. Der damit verbundene Stress, die Traurigkeit und Schamgefühle sind intensiv, während das Verständnis des sozialen Umfelds begrenzt sein kann. Nach Tennov dauert eine limerente Episode in der Regel zwischen 18 Monaten und 3 Jahren [1]. Da Limerenz Ähnlichkeiten mit Zwangs- und Suchterkrankungen aufweist, möchte ich Dir hier einige Techniken vorstellen, die möglicherweise hilfreich sein könnten. 

  1. Reiz- und Reaktionskontrolle: Es wird empfohlen, den Kontakt zum limerenten Objekt vollständig zu meiden, ähnlich wie bei der Behandlung von Suchterkrankungen. Wenn dies nicht möglich ist, kann die Technik der Exposition mit Reaktionsprävention zum Einsatz kommen. Hierbei setzt man sich bewusst dem gefürchteten Reiz aus ohne das typischerweise folgende   Ritual auszuführen. Im Fall von Limerenz kann der gefürchtete Reiz beispielsweise die Abwesenheit des limerenten Objekts sein und das Ritual kann darin bestehen, das Objekt in Unterhaltungen zu thematisieren, Fotos anzuschauen oder die Social-Media-Profile zu besuchen. 
 
  1. Hinterfragen der Idealisierung: Limerenz wird oft aufrechterhalten, weil das limerente Objekt durch die rosarote Brille betrachtet und idealisiert wird. Teilweise wird es sogar als absolut einzige Quelle des Glücks erachtet. Es kann somit helfen, sich zu fragen, in welchen Augenblicken man auch ohne die Person glücklich und zufrieden war. Zudem kann es nützlich sein, die Lebensbereiche zu erkennen, in denen das limerente Objekt möglicherweise nicht optimal zu einem passt. 
 
  1. Verhaltensaufbau: Limerenz führt oft dazu, dass andere Aktivitäten und Beziehungen vernachlässigt werden. Der Alltag dreht sich fast ausschließlich um Gedanken an das limerente Objekt oder mit diesem in Verbindung stehende Aktivitäten. Daher kann es helfen, bewusst Tätigkeiten nachzugehen, die nichts mit der Person zu tun haben und idealerweise den Aufbau anderer sozialer Kontakte ermöglichen. 
 
Schlusswort – die Gratwanderung 

Die wohl am schwierigsten zu beantwortende Frage ist die Frage nach dem Sinn des Lebens, dem Sinn in allem. Vielleicht resultiert der Wunsch nach intensiven, aufregenden Erfahrungen und Menschen genau aus dieser Frage. Ist man so richtig verliebt, glaubt man, den Sinn gefunden zu haben. Man ist ganz ohne Mühe auf diesen einen Menschen fokussiert. Obsession ist dann häufig eine natürliche Folge. Deshalb bin ich der Meinung, dass man in einer solchen Situation hinterfragen muss, ob das Verliebtsein mit mehr Freude oder Leid einhergeht. Daraus ergibt sich aber wiederum die Frage, wie gern ein Mensch sich freut und wie gern er vielleicht auch leidet.